Silhouette von vier Krebspatienten

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Krebs als Erbe

Zuletzt aktualisiert am 26. Juli 2022 Erstmals publiziert am 20. Juni 2022

Bestimmte Tumorarten können in Familien gehäuft auftreten – das kann an einer erblichen Veranlagung liegen. Ein Gentest bringt Klarheit, ob das Krebsrisiko erhöht ist. Die Folgen können gravierend sein.

Text: Helga Kessler

Die Patientin ist erst 28 Jahre alt, als sie die Diagnose erhält: Brustkrebs, dreifach negativ. Das bedeutet, dass der Tumor weder auf die Hormone Östrogen und Progesteron empfindlich ist, noch eine Überexpression am Rezeptor für HER2 aufweist. Damit fehlen Stellen, an denen Medikamente ansetzen können. «Diese Form von Brustkrebs ist besonders schwer zu behandeln und hat ein höheres Risiko, sich auszubreiten», sagt Esther Birindelli, Oberärztin der Klinik für Gynäkologie. Ist der Tumor dreifach negativ und die Brustkrebspatientin jünger als 60 Jahre, wird immer ein Gentest empfohlen. Stellt sich dabei heraus, dass eine Veränderung im Erbgut vorliegt, erhöht sich zudem das Risiko für Eierstockkrebs. Auch Familienmitglieder könnten dann betroffen sein.

Zellschäden werden nicht mehr repariert

Die meisten der jährlich in der Schweiz auftretenden 6’200 Fälle von Brustkrebs haben keine erbliche Ursache. Nur bei 5 bis 10 Prozent aller Brustkrebserkrankungen sind die Gene verändert, besonders häufig die «Reparaturgene» BRCA1 oder BRCA2. Die Eiweisse, die nach der Vorlage dieser Gene gebildet werden, sind dann nicht mehr in der Lage, Zellschäden zu reparieren. Damit wächst das Risiko für Krebs. Betroffene Frauen erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 bis 80 Prozent bereits im mittleren Alter an Brustkrebs. Im Bevölkerungsdurchschnitt ist das Brustkrebsrisiko deutlich niedriger, und die Erkrankungen treten eher später auf.

Bei der 28-jährigen Patientin waren auf väterlicher Seite eine Tante und die Grossmutter an Brustkrebs erkrankt, auf mütterlicher Seite eine Cousine. Tatsächlich zeigt sich beim Gentest eine krankmachende BRCA1-Mutation. Sie lässt sich deshalb das Brustdrüsengewebe unter der Haut auf beiden Seiten entfernen und die Brüste rekonstruieren. Das Risiko für Brustkrebs wird durch diese Operation am meisten gesenkt, wenn sie vor einer Erkrankung erfolgt. Regelmässige Kontrollen mit Ultraschall und MRI sollen sicherstellen, dass ein erneutes Aufflackern der Krebserkrankung bei der jungen Frau genug früh entdeckt wird. Ihr wird zudem geraten, die Eierstöcke spätestens im Alter von 40 Jahren vorsorglich entfernen zu lassen.

Brustkrebs bei Männern ist selten

Sehr selten kann Brustkrebs auch bei Männern auftreten – 50 Fälle sind es in der Schweiz pro Jahr. Erkrankt ein Mann an Brustkrebs, zieht das immer einen Gentest nach sich. Denn auch Männer können das defekte Gen an ihre Kinder weitergeben. Besonders häufig betrifft die Veränderung das BRCA2-Gen. Allerdings sind die Empfehlungen zur Vorsorge «weniger klar» als bei Frauen, da das Gen bei Männern viel seltener auftritt, sagt Esther Birindelli. Empfohlen wird, bereits mit 40 statt erst mit 50 zur Prostata-Vorsorge zu gehen, weil bei den Männern mit dem Risikogen auch Prostatakrebs gehäuft auftritt.

Viele der Beratungsgespräche führt Esther Birindelli nicht mit Krebspatientinnen und -patienten, sondern mit Ratsuchenden, die wissen möchten, ob sie Krebsgene in sich tragen, weil Krebs in der Familie gehäuft auftritt. In solchen Fällen erstellt sie ein Risikoprofil, in das neben dem Stammbaum auch Angaben zum Lebensstil einfliessen. Ergibt sich ein erhöhtes Risiko, beantragt die Fachärztin bei der Krankenkasse eine Kostengutsprache für einen Gentest aus dem Blut. Dieser kostet rund 4’000 Franken.

Genanalyse für Diagnose und Therapie

Findet man in einem Tumor eine Mutation, kann mittels Bluttest festgestellt werden, ob er erblich ist. Andere Tests der Gene von Tumoren beeinflussen die Behandlung: Solche Tests gibt es inzwischen auf mehr als 400 krankmachende Gene. «Dass wir Tumorgewebe oder Zellen auf alle bekannten Veränderungen untersuchen, ist eher selten», sagt Achim Weber, stellvertretender Direktor des Instituts für Pathologie und Molekularpathologie. In der Regel gehe es darum, mit einem Gentest die passende Therapie zu finden. «Bei vielen Krebsarten wissen wir sehr genau, auf welche Gene wir schauen müssen», erklärt Achim Weber. Meist sind die Veränderungen in der Erbsubstanz zufällig entstanden, was mit zunehmendem Alter häufiger vorkommt. Die fehlerhaften Gene finden sich dann in den Tumorzellen. Eher selten betreffen die Mutationen Ei- und Samenzellen (Keimzellen) und können dann an die nächste Generation weitergegeben werden.

Von etlichen Krebsarten weiss man, dass sie eine erbliche Ursache haben können, darunter bestimmte Formen von Magen-, Darm-, Prostata- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie von schwarzem Hautkrebs. Doch häufig ist es komplex. Für Brustkrebs sind neben BRCA1 und BRCA2 weitere Gene bekannt, die das Erkrankungsrisiko erhöhen. «Man muss sich vorher gut überlegen, was man testen möchte und welche Konsequenzen das hat», betont Fachärztin Esther Birindelli. Im humangenetischen Beratungsgespräch möchte sie deshalb wissen: Was kann die Person, die getestet wird, beruhigen? Genügt ihr ein negatives Ergebnis für die zwei wichtigsten Gene, oder möchte sie alle getestet haben? Welche Konsequenzen hätte ein positives Ergebnis? Würde die betroffene Person vorbeugende Massnahmen ergreifen? Wen in der Familie informiert man und wen nicht?

Wen will man informieren?

Ein Test auf eine erbliche Veranlagung für eine Krebserkrankung ist immer eine Familienangelegenheit. Brustkrebs beispielsweise kann mit einem Risiko von 50 Prozent an die Nachkommen weitergegeben werden. Betroffen sind deshalb auch Verwandte zweiten Grades wie Tanten oder Onkel – abhängig davon, von wem das defekte Gen übertragen wurde. Esther Birindelli empfiehlt testwilligen Personen, vorab mit der Familie zu sprechen. Falls jemand das Ergebnis nicht wissen möchte, rät sie, künftig das Thema Test nicht mehr anzusprechen. Im anderen Fall empfiehlt sie, abschliessend den ausführlichen Bericht weiterzugeben: «Dann weiss diese Person – beziehungsweise der behandelnde Arzt – gleich, nach welchem Gen man bei ihr suchen muss.» Und auch, wenn sich eine weitere Suche erübrigt.

Achim Weber, Prof. Dr. med.

Leitender Arzt, Stv. Institutsdirektor, Institut für Pathologie und Molekularpathologie

Tel. +41 44 255 27 81
Spezialgebiete: Molekularpathologie, Gastrointestinale Pathologie, Leberpathologie