Das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) ist der Inbegriff einer Krankheit, die das Immunsystem angreift. Weshalb es immer noch keine Impfung dagegen gibt, wer immun ist und wo die Forschung steht.
Heute versetzt COVID-19 die Welt in Angst und Schrecken, in den 1980er-Jahren tat dies das Humane Immundefizienz-Virus (HIV). Bis Ende 2018 hat HIV 32 Millionen Menschenleben gefordert. In der Schweiz leben derzeit rund 16’500 Personen mit dem HI-Virus. Wie jetzt beim neuen Coronavirus forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt an einer Impfung gegen HIV. Weshalb gibt es bis heute noch keine? «Das hat verschiedene Gründe», erklärt Roberto Speck. Der Infektiologe ist an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene als Physician Scientist tätig. Er ist Kliniker und Forscher zugleich und beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit HIV. «Man weiss immer noch nicht, wie das Virus im Menschen kontrolliert wird.» HIV-infizierte Menschen zeigen unterschiedliche Verläufe. Die Oberflächenproteine des Virus, die eine Immunantwort auslösen, sind extrem dynamisch. «Man spricht davon, dass sie ‹atmen›», ergänzt der Infektiologe Huldrych Günthard. Auch er befasst sich schon über 20 Jahre mit dem Virus. «Man muss es sich wie ein bewegliches Teil vorstellen, das sich auf der Virushülle hin- und herbewegt. Je nachdem, in welcher Phase es ist, kann es die eine oder andere Immunantwort auslösen.»
Anders als andere Viren
Für eine funktionierende Impfung müsste man es deshalb im richtigen Augenblick erwischen. Das hat man bis heute nicht geschafft. «Wenn sich jemand mit HIV infiziert, entwickelt sich der ursprüngliche Stamm im Menschen ganz unterschiedlich», erklärt Roberto Speck. Innerhalb kürzester Zeit gibt es tausende verschiedene Varianten des Virus. «Das HI-Virus verändert sich so schnell, dass die spezifische T-Zell-Antwort und die neutralisierende Antikörper-Antwort gegen Immunogene des Virus hinterherhinken.» Das ist ein grosser Unterschied zu anderen Viren. Bei Masern oder Hepatitis B beispielsweise handelt es sich um je einzelne Virenstämme, die nicht mutieren. Hier kann man also impfen. Ein weiterer Unterschied: Das HI-Virus infiziert genau die Zellen, die für den Aufbau der Immunabwehr wichtig sind: die T-Zellen, Helferzellen und Makrophagen. Roberto Speck umschreibt es so: «HIV greifen das Herz der Immunabwehr an.» Ein weiteres Problem: Wird man angesteckt und weiss es nicht, vermehrt sich das Virus, ohne dass man Symptome spürt. Lässt man sich nicht testen, kann es sein, dass man erst Jahrzehnte nach der Ansteckung davon erfährt – und schon massiv krank ist: Wegen der dauernden Virenvermehrung und Aktivierung durch das Virus funktioniert das Immunsystems nicht mehr richtig. Dann spricht man von einer Aids-Erkrankung (Acquired Immune Deficiency Syndrome).
Das Immunsystem kann sich erholen
Es gibt zwar keine Impfung, die gute Nachricht ist aber: Wenn man es früh weiss, sich behandeln lässt und Medikamente nimmt, stirbt man nicht an HIV. «Die Medikamente, die wir heute haben, sind hervorragend. Wir können bei fast allen Patientinnen und Patienten die Viruslast unterdrücken», präzisiert Huldrych Günthard. Und trotzdem kann das Virus bei Unterbrechung der antiretroviralen Therapie innert Wochen zurückkehren. Unter Medikamenten sind aber fast alle Betroffenen nicht infektiös, und das Immunsystem erholt sich bis zu einem gewissen Grad. Eine HIV-positive Person, die Medikamente einnimmt und keine Begleiterkrankungen hat, hat eine ähnliche Lebenserwartung wie eine HIV-negative Person. «Das ist einer der grössten medizinischen Erfolge, den man je bezüglich geretteter Lebensjahre erreicht hat», ist sich Huldrych Günthard sicher. So gehören gemäss aktuellem Wissensstand HIV-positive Menschen, die medikamentös gut eingestellt sind, nicht zu den COVID-19-Risikopatienten.
Immer wieder hört man, dass es Menschen gibt, die gegen das Virus immun sein sollen. «Es gibt Personen, bei denen HIV nicht andocken kann, weil ihnen ein funktionstüchtiger Co-Rezeptor auf den Immunzellen fehlt», erklärt Huldrych Günthard. Ungefähr ein Prozent der Bevölkerung in Europa hat diese Mutation. Zusätzlich gibt es ganz wenige Menschen, die das HI-Virus spontan kontrollieren können. Bei ihnen können die gängigen Tests kein Virusgenom im Plasma nachweisen. Weshalb das so ist, weiss die Wissenschaft bis heute nicht. Das wird immer noch intensiv erforscht.
Eine Tablette am Tag
Wie funktioniert die Standardtherapie bei einer HIV-Infektion? «Patientinnen und Patienten erhalten in den allermeisten Fällen drei Substanzen, die den Replikationszyklus des Virus möglichst unterbinden», erklärt Roberto Speck. Die Substanzen unterbinden das Umschreiben der RNA in DNA, hindern das Virus daran, sich in den Chromosomen einzubauen oder hindern das Viruspartikel an der Ausreifung. Und das meistens in einer einzigen Tablette. «Weil das Virus ständig mutiert, würde eine einzelne Substanz rasch ihre Wirkung verlieren.» Zurzeit geht die Entwicklung der Therapie in Richtung Zweierkombination. Zudem arbeiten Forschende auf der ganzen Welt daran, Medikamente mit längerer Wirkungszeit zu entwickeln, die man beispielsweise spritzen kann. «So müssten Patienten keine Tabletten mehr einnehmen, sondern lediglich alle zwei oder drei Monate zum Arzt, um sich die Medikamente spritzen zu lassen», erläutert Huldrych Günthard.
«Das klingt alles sehr gut, in der Schweiz haben wir das Virus zurzeit sehr gut unter Kontrolle», ergänzt er. «Aber weltweit hat man es nach wie vor nicht im Griff.» Jede Woche sterben ca. 15’000 Menschen an HIV. Mit der aktuellen Coronavirus-Krise werden noch mehr Menschen daran sterben. Weil zum Beispiel Medikamente nicht mehr rechtzeitig geliefert werden können oder die Menschen Angst haben, medizinische Betreuung aufzusuchen, oder die Präventionsanstrengungen abnehmen. Um das Virus weltweit in den Griff zu bekommen, fehlt nach wie vor eines von zwei Dingen: eine Heilung oder eine Impfung.
Vielversprechende Forschung
Daran arbeiten Forschende auf der ganzen Welt seit Jahren intensiv. Das USZ ist seit Beginn Teil der HIV Kohortenstudie (vgl. Box). In der Schweiz sind um die 10’000 Menschen in der Studie eingeschlossen, fast 2’000 Patientinnen und Patienten werden am USZ behandelt. «Im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose, haben wir bei HIV eine extrem gute Datenqualität», schwärmt Huldrych Günthard. «So können wir zum Beispiel untersuchen, ob andere Erkrankungen durch HIV beeinflusst werden oder ob diese die HIV-Infektion beeinflussen.»
Auch in der Grundlagenforschung läuft viel: Roberto Speck und sein Forschungsteam untersuchen derzeit verschiedene Themen: «Wir wollen zum einen die Pathogenese von HIV besser verstehen», sagt er, also wie die Krankheit entsteht und sich entwickelt. In einem Projekt untersuchen sie, inwiefern das Interferonsystem – das ist das Abwehrsystem, das initial aktiviert wird, wenn man sich mit dem Virus infiziert – durch das Virus manipuliert wird. Ein anderes Projekt untersucht die Bedeutung der Fresszellen des Immunsystems. Fachpersonen gehen davon aus, dass sie primär HIV vermehren und keine weiteren Immunfunktionen in der HIV-Krankheit übernehmen. In einem dritten Forschungsprojekt versuchen sie, HIV-spezifische CART-Zellen zu entwickeln. CAR-T-Zellen sind im Labor veränderte Immunzellen. Diese können die erkrankten Zellen mit ihren antigenspezifischen Rezeptoren identifizieren. «Wir sind so weit, dass unsere CAR-T-Zellen HIV in einer Zellkultur gut bekämpfen können», erzählt Roberto Speck. Die Idee ist, dass man einmalig CAR-T-Zellen spritzen kann, die das Virus in Schach halten. «Das wäre ein Traum», so Roberto Speck. Zuerst muss aber gezeigt werden, dass die angedachte Therapie in vivo auch funktioniert. Und wenn ja, ob sie von der Gesellschaft akzeptiert wird und finanzierbar ist. Trotz Hürden: Hoffnung besteht allemal, dass es funktioniert.