Überblick
Man spricht von neuropathischen Schmerzen, wenn das schmerzleitende Nervensystem selbst geschädigt ist und es Impulse nicht mehr korrekt weiterleitet.
Chronische neuropathische Schmerzsyndrome gehören zu den grössten Herausforderungen der Neuromedizin. Die Trigeminusneuralgie ist eines dieser Syndrome. Sie führt zu blitzartig einschiessenden und oft als elektrisierend beschriebenen Schmerzen im Gesicht, die spontan oder durch Ursachen wie beispielsweise einen Luftzug, eine Berührung, Sprechen, Zähneputzen oder Essen ausgelöst werden. Der Schmerz hält zwar nur für einen Moment oder wenige Sekunden an, erreicht aber leicht das Höchstmass des für Menschen vorstellbaren Schmerzausmasses. Typischerweise ist nur eine Gesichtsseite betroffen, insbesondere der Wangen- oder Kinnbereich. Es kommt auch vor, dass die Schmerzen für Monate vollständig verschwinden und danach in altbekannter Form wiederkehren.
In der Schweiz sind pro Jahr um die 500 Frauen und 350 Männer ab einem Alter von 40 Jahren neu davon betroffen. Man unterscheidet die Syndrome nach der Ursache des Schmerzes. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten findet man mit modernen bildgebenden Verfahren eine Ursache und bezeichnet diese dann als «typische Trigeminusneuralgie»: Dicht am Hirnstamm, dort wo der Nervus trigeminus in den Pons eintritt, hat ein Blutgefäss, meist eine Schlinge der Arteria cerebelli superior, Kontakt zum Nerv. Das ist an sich nicht krankhaft. Enge Kontakte zwischen Nerven und Blutgefässen kommen überall im Körper vor. In unglücklichen Fällen führt der andauernde Druck auf den Nerven aber zu einer Demyelinisierung. Das ist eine Schwächung der Myelinscheiden, die wie eine Isolation jede einzelne Nervenfaser umgeben. Damit kommt es zum ungewollten Überspringen von elektrischen Impulsen von sensiblen Fasern auf Schmerzfasern. So jedenfalls stellt man sich heute stark vereinfacht die Ursache der Erkrankung vor.
In anderen Fällen findet man keinen solchen Konflikt und bezeichnet diese daher als «idiopathische Trigeminusneuralgie».
Daneben gibt es noch eine Unzahl von Erkrankungen, die ebenfalls zu ganz ähnlichen Gesichtsschmerzen führen können. Dazu zählen Tumore, Schlaganfälle, Demyelinisierungen bei Multipler Sklerose, Viruserkrankungen wie Herpes Zoster. Und nicht zuletzt können natürlich Zahn- und Kiefererkrankungen für die Schmerzen verantwortlich sein. Oft wird daher auch der Zahnarzt zuerst aufgesucht. Nicht selten gehen multiple Zahnbehandlungen und -extraktionen der Zuweisung zum Neuromediziner voraus. Eine frühzeitig durchgeführte Kernspintomographie bei attackenartigen elektrisierenden Gesichtsschmerzen kann den Leidensweg der Patientinnen und Patienten verkürzen.
Behandlungsformen
Es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Sie unterscheiden sich nach der Ursache der Schmerzentstehung.
Die medikamentöse Behandlung
Wenn sich keine heilende Therapie anbietet, wie beispielsweise bei einem Hirntumor, der operativ entfernt werden kann, lohnt sich in jedem Fall ein medikamentöser Behandlungsversuch, der auch meistens von Erfolg gekrönt ist. Die verwendeten Medikamente stammen zumeist aus der Gruppe der Antiepileptika, wirken membranstabilisierend und heben so die Reizschwelle für die Schmerzfasern des Nervus trigeminus an.
Die Medikamente Carmamazepin oder alternativ Oxcarbazepin werden schrittweise aufdosiert, sofern sie gut vertragen werden und die Patientinnen und Patienten nicht durch auftretende Müdigkeit zu sehr beeinträchtigen. Auch Lamotrigin, Gabapentin, Phenytoin und andere Medikamente werden eingesetzt.
Der Zeitpunkt für eine interventionelle Behandlung
Eskalationstherapien kommen erst dann zum Einsatz, wenn die medikamentöse Therapie nicht ausreichend wirkt, Medikamente nicht vertragen werden oder die Nebenwirkungen für die Patientin oder den Patienten nicht tolerabel sind. Die Behandlung kann drei verschiedene Ansätze verfolgen.
- Die mikrovaskuläre Dekompression beseitigt die Ursache einer typischen Trigeminusneuralgie, den Konflikt zwischen Nerv und Blutgefäss.
- Ist dies nicht möglich oder nicht erfolgreich, kommen ablative Verfahren zum Einsatz. Dabei werden gezielt Nervenfasern zerstört, entweder mit Röntgenstrahlung, Druck, Hitze oder chemisch.
- Als letzte Eskalationsstufe besteht noch die Möglichkeit einer Neuromodulation. Diese Verfahren dürfen nur nach Ausschöpfen aller Alternativen und nach einem gemeinsamen Beschluss von Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen eingesetzt werden.
Dabei wird die Schmerzwahrnehmung im Gehirn selbst verändert: Der Schmerz wird dabei zumeist durch den Einsatz von «Hirnschrittmachern» bekämpft.
1. Die mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta
Aus Sicht der Neurochirurgie ist diese Behandlung ideal, obwohl sie von den aufgeführten Alternativen den grössten operativen Eingriff darstellt.
Vorgehen
Nach der Narkose wird der Schädel über einen Hautschnitt knapp hinter dem Ohr eröffnet. Dazu genügt ein «Fenster» von etwa der Grösse eines Zweifränklers. Unter dem Operationsmikroskop wird dann ein Weg zwischen dem Knochen des Felsenbeins und dem Kleinhirn verfolgt, bei dem kein Gewebe verletzt werden muss. Mit feinen Mikroinstrumenten wird vorsichtig das Blutgefäss vom Nerv abgelöst und davon weggeschoben. Um ein Zurückfallen in die alte Position zu verhindern, wird ein Schwämmchen aus Teflonfasern zwischen Nerv und Blutgefäss gelegt.
Chancen und Risiken
Der Eingriff führt in 80 bis 96 Prozent der Fälle zu einer sofortigen Schmerzfreiheit. Zwischen 72 und 85 Prozent der Patientinnen und Patienten sind auch fünf Jahre nach dem Eingriff noch schmerzfrei und benötigen keine Medikamente.
Nebenwirkungen
- Häufig: ein lokalisiertes Taubheitsgefühl am Hinterkopf oberhalb der Operationsnarbe; vorübergehende Schmerzen im Operationsgebiet; vorübergehender Schwindel und Übelkeit.
- Selten: Komplikationen wie zum Beispiel eine Hörminderung, ein Hörverlust auf der behandelten Seite oder Gefühlsstörungen im Gesicht.
- Sehr selten: schwere Komplikationen wie eine Wundinfektion oder eine Hirnblutung. Letztere kann sogar lebensbedrohlich sein.
Der entscheidende Vorteil dieses Eingriffs ist, dass das Gehirn und die Nerven selbst geschont werden.
2. Die Rhizotomie des Ganglion Gasseri
Ein ablatives Verfahren, das heisst ein «Gewebezerstörendes» Verfahren, wählen wir in den folgenden Fällen:
- Wenn kein Gefäss-Nerven-Konflikt in der Bildgebung erkennbar ist.
- Wenn die Mikrovaskuläre Dekompression nicht erfolgreich war.
- Wenn eine grössere Operation aufgrund der individuellen Risiken der Patientin, wie beispielsweise fortgeschrittenem Lebensalter, eher zu vermeiden ist, oder wenn eine solche Operation durch den Patienten nach Abwägung der Risiken und Belastungen nicht gewünscht ist.
Vorgehen
Bei der Rhizotomie des Ganglion Gasseri wird mit einer Nadel entweder vom Mundwinkel aus oder direkt durch die Mundhöhle das Foramen ovale an der Schädelbasis punktiert. Über die Nadel wird dann durch das Foramen ovale hindurch das Ganglion Gasseri (der Teil des Gesichtsnervs, in dem er sich in seine drei Äste teilt) in seinem bindegewebigen Raum, dem Cavum Meckeli, gezielt beschädigt. Dies passiert entweder durch Einbringen einer alkoholischen Lösung (Glycerolinfiltration), durch Hitze (Radiofrequenzablation nach Sweet) oder durch Druck (Ballonkompression).
Chancen und Risiken
Verschiedene Studien haben die Erfolgsaussichten und Risiken der Verfahren untersucht. Nur wenige davon haben diese jedoch kontrolliert und noch weniger haben die verschiedenen Verfahren systematisch verglichen. Dennoch kann man sagen, dass ein initialer Erfolg in etwa 80 bis 100 Prozent der Fälle zu erwarten ist. In etwa 60 bis 80 Prozent sind die Patientinnen und Patienten auch nach fünf Jahren noch schmerzfrei.
Nebenwirkungen
- Häufig: ein vorübergehendes Taubheitsgefühl im Gesicht
- Selten: ein bleibendes Taubheitsgefühl im Gesicht
- Sehr selten: andere Komplikationen
Zu den schwersten Komplikationen zählen:
- die „Anästhesia dolorosa“. Das ist eine völlige Taubheit des Gesichts bei gleichzeitig bestehenden Schmerzen.
- Erblinden durch die Schädigung der Augenhornhaut. Dies kommt vor, wenn das Auge gefühllos ist und seine Schutzreflexe nicht mehr wie gewohnt funktionieren.
Der Eingriff ist vergleichsweise klein und wenig belastend für den Patienten, hat aber eine bleibende Zerstörung von Nerven zum Ziel. Daher ist er aus Sicht der Neurochirurgin eigentlich «schwerer», als die oben erwähnte mikrovaskuläre Dekompression. Dafür eignet sich dieser Eingriff auch gut für Patientinnen und Patienten mit anderen Formen der Trigeminusneuralgie und -neuropathie, wie beispielsweise Gesichtsschmerzen bei Multipler Sklerose oder wenn keine Ursache erkennbar ist.
3. Die radiochirurgische Behandlung
Nochmal weniger belastend als die oben aufgeführten Verfahren ist die Radiochirurgie. Das Prinzip ist das gleiche wie bei den anderen Ablationen: Es werden gezielt schmerzleitende Nerven zerstört und damit Schmerzen gelindert. Dies erfolgt durch eine einzeitige stereotaktische Bestrahlung des Trigeminusnervs mit einer sehr hohen Strahlendosis von 70 bis 80 Gray, wobei der Abstand zum Hirnstamm so gewählt wird, dass dieser weniger als 20 Gray Strahlung abbekommt. Die gesamte Behandlung ist an einem Tag möglich – anders als die Strahlentherapie bei den meisten Tumoren.
Chancen und Risiken
Diese Behandlungsform ist ohne Narkose möglich. Eine mögliche Blutverdünnung muss dafür nicht unterbrochen werden. Die schmerzlindernde Wirkung tritt jedoch erst nach mehreren Wochen ein. Ausserdem sind in vergleichenden Studien die Erfolgsaussichten mit initial 92 bis 97 Prozent und nach fünf Jahren nur noch 44 bis 65 Prozent nicht ganz so gut wie bei den anderen Verfahren.
Das Risiko eines bleibenden Taubheitsgefühls im Gesicht nach der Behandlung ist etwa 20 Prozent. Der Vorteil davon ist, dass die chirurgischen Risiken, die meisten Belastungen und der stationäre Aufenthalt entfallen.
Das Verfahren eignet sich gut als Alternative zur Rhizotomie und besonders gut für Patientinnen und Patienten mit Kontraindikationen für einen operativen Eingriff.
4. Neuromodulation
Den Abschluss der Behandlungsoptionen machen die Verfahren der Neuromodulation.
Das wichtigste davon ist die tiefe Hirnstimulation. Wie bereits erwähnt sind diese Verfahren nicht Teil der Standardtherapie und kommen daher nur im Einzelfall nach sorgfältiger Abwägung und nach Ausschluss von Behandlungsalternativen zum Einsatz.
Die periphere Nervenfeldstimulation
Sie ist eine elegante Form der Neuromodulation.
Vorgehen
Bei diesem operativen Eingriff implantieren wir unter Narkose feine Elektroden in die von Schmerzen betroffenen Hautpartien. Die Elektroden werden unter der Haut mit einem Schrittmacher (vergleichbar mit einem Herzschrittmacher) verbunden, so dass sie von aussen nicht sichtbar sind. Das auf diese Weise in der Haut aufgebaute elektrische Feld wird als Kribbeln oder Wärme empfunden und überlagert im Sinne der Gate-Control-Theorie den Schmerz.
Stark vereinfacht besagt diese Theorie, dass die Eingänge für Schmerzinformationen zum Zentralnervensystem erstens eine begrenzte Kapazität haben
und zweitens durch Tor-Mechanismen kontrolliert werden, die vom Zentralnervensystem geöffnet und geschlossen werden können. Durch alternative Reize kann die Durchlässigkeit dieser «Tore» gezielt reduziert werden. Instinktiv kennt das jeder: Das Reiben einer verletzten Hautpartie kann helfen, die Schmerzempfindung zu reduzieren. Viele Methoden der Neuromodulation bauen auf diesem Prinzip auf. Sie reduzieren die an das Gehirn geleiteten Schmerzreize, indem diese Tore durch elektrische Impulse verschlossen werden.
Chancen und Risiken
Besonders attraktiv ist dieses Verfahren deshalb, weil der gesamte Eingriff nur in und unter der Haut stattfindet. Damit sind ausser einem niedrigen Infektions- und Wundheilungsstörungsrisiko eigentlich keine Komplikationen zu erwarten. Zu den Erfolgsaussichten existieren keine belastbaren Daten, unserer Erfahrung am Universitätsspital Zürich nach eignet sich diese Behandlung aber gut für Patientinnen und Patienten mit Gesichtsschmerzen nach einer Zoster ophthalmicus Erkrankung.
Die tiefe Hirnstimulation wird heute insbesondere zur Behandlung des Morbus Parkinson eingesetzt, wurde jedoch ursprünglich für die Behandlung chronischer Schmerzen entwickelt.
Für kurze Zeit war das Verfahren durch die amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) zugelassen, ist dies heute aber nicht mehr. Grund dafür ist, dass bis heute keine methodisch und vom Umfang her ausreichende Studien existieren, die die Wirksamkeit des Verfahrens nachweisen können. Es besteht eine sehr grosse Bandbreite an Umsetzungsmöglichkeiten bei dieser Behandlung. So können die Elektroden entweder im so genannten posteromedialen oder posterolateralen Thalamus, dem zentromedianen Thalamus, dem periaquäduktalen Grau oder dem Gyrus cinguli implantiert werden. Die Elektroden werden dann ebenfalls unter der Haut mit einem Neurostimulator verbunden. Dieser wird im Brust- oder Bauchbereich analog eines Herzschrittmachers implantiert. In ausgewählten Fällen und bei ausgeschöpften alternativen Methoden kann nach sorgfältiger interdisziplinärer Abwägung dieses Verfahren erwogen werden.
Zusammenfassung
Die Behandlung von chronischen Gesichtsschmerzen ist eine interdisziplinäre Aufgabe. Am wichtigsten ist es, dass Sie als Patientin oder Patient gut über die verschiedenen Behandlungsoptionen der einzelnen medizinischen Disziplinen informiert sind. Ist eine konservative Behandlung nicht erfolgreich, sollte, wo möglich, im Rahmen eines interdisziplinären Boards über die weitere Behandlung beraten werden.
Chancen und Risiken der Verfahren im Vergleich