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Theodor Billroth liess nicht locker: Eine Augenklinik muss es sein!
von Ronald D. Gerste
Aus Gottfried Kellers Feder flossen zahlreiche grosse Werke. Als Lyriker hatte er begonnen, doch berühmt wurde dieser bedeutendste Erzähler des bürgerlichen Realismus im 19. Jahrhundert durch seine Novellen wie „Der Grüne Heinrich“, „Kleider machen Leute“ und „Der Schmied seines Glückes“. Am 8. März 1862 setzte der leicht myope Dichter seinen Namen allerdings unter ein weitaus prosaischeres, doch folgenschweres Dokument. Erst wenige Monate zuvor zum Ersten Staatsschreiber seiner Heimatstadt Zürich ernannt, unterzeichnete Keller in dieser höchst offiziellen Funktion die Urkunde, mit welcher Johann Friedrich Horner zum Professor für Ophthalmologie und erstem Direktor der Augenklinik am Kantonsspital berufen wurde. Diese Amtshandlung Kellers war die Gründungsstunde einer der ganz grossen Adressen der europäischen Ophthalmologie, einer Stätte, die mit bedeutenden Namen in der Entwicklung unseres Faches, mit Forschungsleistungen und der Ausbildung eines wesentlichen Teils der Schweizer (und zahlreicher ausländischer) Augenärzte verbunden ist: der Universitäts-Augenklinik Zürich. Exakt am 8. März 2012 hat man in einem Festakt der Gründung vor 150 Jahren gedacht, am Tag darauf mit einem wissenschaftlichen Symposium mit internationaler Beteiligung.
Die Spitalgeschichte der Stadt Zürich reicht weit ins Mittelalter zurück. Bereits im Jahr 1204 wird mit dem Heiliggeistspital am Wolfbach eine erste Stätte der Pflege für Kranke urkundlich erwähnt, auch wenn es wahrscheinlich in erster Linie eine Unterkunft für arme Menschen gewesen ist. Von einem offiziellen „Blatternarzt“ weiss man seit 1496 – in jener letzten Dekade des 15. Jahrhunderts breitete sich eine neue verheerende Seuche über Europa aus, mutmasslich ein Mitbringsel der Seeleute des Columbus und anderer Entdecker aus der Neuen Welt: die Syphilis. Drei Jahrhunderte später – so hat es der sich der Geschichte der Augenklinik in hohem Masse widmende ehemalige Direktor Balder Gloor recherchiert – wurden in dem Spital auch Augenpatientinnen und -patienten aufgenommen: Im 1786 erwähnten „Schnydstübli“ gab es Betten für staroperierte Patientinnen und Patienten.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebten alle nennenswerten europäischen Grossstädte eine Epoche höchst innovativen Krankenhausbaus, im Wesentlichen ausgelöst durch grandiose Vorbilder wie das josefinische Allgemeine Krankenhaus in Wien. Es war eine Entwicklung, die auch an Zürich nicht spurlos vorbeiging. Ab 1842 begann man ausserhalb der Stadtmauern, auf dem Schönhausgut, ein Spital mit schliesslich 350 Betten zu errichten – es ist der heutige Standort des Universitätsspitals Zürich (USZ). Es waren vor allem die operativen Fächer, die in diesen Jahren einen immensen Aufschwung nahmen und einen grossen Teil der Betten für ihre Patientinnen und Patienten beanspruchten. Im Oktober 1846 wurde im fernen Boston erstmals eine Operation in Vollnarkose durchgeführt; eine segensreiche Innovation, die in den ersten Monaten des Jahres 1847 auch in Zürich Einzug hält. Bald versuchen einige kühne Innovatoren dem Wundfieber, der Infektion als Schreckgespenst der postoperativen Prognose Einhalt zu gebieten. Die Händedesinfektion setzt sich, auch für Kataraktoperateure, zunehmend durch und in vielen Operationssälen auf dem europäischen Kontinent stehen bald die von Joseph Lister propagierten Karbolsprays – zur Bekämpfung jener Keime, die in den nächsten Jahren erst allmählich unter den Mikroskopen eines Robert Koch, eines Louis Pasteur sichtbar werden. An die Chirurgische Klinik des neuen Spitals wurde in jener aufregenden Phase ein Mann berufen, der zu den ganz Grossen dieses Faches aufsteigen sollte: Theodor Billroth. 1860 übernahm der aus Rügen stammende Chirurg den Lehrstuhl in Zürich, den er sieben Jahre lang innehaben sollte, bevor er an die Stätte seiner grössten Innovationen ging, die 2. Chirurgische Lehrkanzel in Wien.
Zu Billroths Aufgabengebiet gehörte nominell auch die Augenheilkunde. Dies behagte ihm wenig. Praktisch von Beginn seiner Tätigkeit an forderte Billroth die Verselbstständigung der Ophthalmologie, eine Entwicklung, bei der abermals Wien die Vorreiterrolle übernommen hatte und die auch an anderen Universitäten zu gären begann. Augenpatientinnen und -patienten gingen sowieso kaum in das Universitätsspital, sondern in die Privatpraxis des Zürcher Augenarztes Johann Friedrich Horner, die dieser seit 1856 unterhielt. Der gebürtige Zürcher Horner hatte beim Übervater der zeitgenössischen Augenheilkunde, bei Albrecht von Graefe in Berlin, eine Assistentenzeit absolviert und sollte einige Jahre später (1869) ein Syndrom aus Miosis, Ptosis und Enophthalmus beschreiben, das noch heute seinen Namen trägt. Nachdem der Regierungsrat zunächst Billroths Ansinnen einer eigenständigen Augenklinik noch abgelehnt hatte, zeigten die der Bürokratie allmählich lästigen Vorhaltungen des energischen Chirurgen schliesslich Wirkung. Horner wurde mit Gottfried Kellers Unterschrift der erste Leiter der Augenklinik, die über zwei Krankensäle mit je zehn Betten verfügte. Pro Jahr wurden etwa 350 Patientinnen und Patienten behandelt. Eines der wichtigsten Anliegen des neuen Chefs – der Antisepsis – musste auch hier zum Siegeszug verholfen werden; die absolute Reinhaltung von Instrumentarium, Operateurshänden und Situs wurde auch in Zürich oberstes Gebot im operativen Alltag.
Auch der Mann, der 1885 Horner in der Führungsposition der Augenklinik nachfolgte, hat sich in die Ophthalmoterminologie eingetragen: Es war Otto Haab, ein Vorderabschnittsspezialist, nach dem die Haab’schen Linien benannt sind, die Einrisse der Descemet-Membran bei angeborenem Glaukom. In jenem Zeitalter der Massenindustrialisierung, in dem auch über Zürich die Schlote rauchten, gehörten in der Fabrik erlittene Fremdkörperverletzungen zum täglichen Brot einer jeden Augenklinik. Haab, offenbar ein begnadeter Tüftler, entwickelte einen Riesenmagneten zur Extraktion eisenhaltiger intraokularer Fremdkörper. Die Historikerin Dana M. Landau schreibt in ihrem Beitrag zur Geschichte der Schweizer Ophthalmologischen Gesellschaft über Haab: „Die neue Apparatur und sein Geschick erlauben es, Fremdkörper bei Umgehung der Linse und Schonung des Ziliarkörpers aus der Tiefe des Auges in die Vorderkammer zu ziehen. Haab ist bekannt als meisterhafter Chirurg, der das Starmesser sowohl links- als auch rechtshändig führen kann.“ Bald platzte die Augenklinik aus allen Nähten und Haab monierte ganz und gar „unzulängliche Verhältnisse“. Er entwarf eigenhändig Pläne für eine neue Augenklinik, die räumlich vom Kantonsspital separiert sein würde. Seine Vision wurde Realität: 1895 zog die Augenklinik in die Rämistrasse 73 um. Das Personal der Haab’schen Augenklinik bestand neben dem Direktor aus zwei Assistenzärzten, acht Schwestern, einem in Doppelfunktion als Heizer und Portier Beschäftigten und zwei Hausmägden.
Haab war mit 34 Jahren ein langes Regnum als Chef der Augenklinik gegeben, was seinem Nachfolger versagt blieb: gesundheitlich angeschlagen, amtierte Ernst Sidler-Huguenin nur von 1919 bis 1922; der als ausserordentlich beliebter akademischer Lehrer beschriebene Ophthalmologe starb im Alter von nur 53 Jahren. Nicht zum letzten Mal in der Geschichte der Zürcher Augenklinik kam dann ein Leiter, der eine vergleichbare Position in Basel für den Ruf in Zürich aufgab. Mit Alfred Vogt kam eine – nennen wir es diplomatisch – interessante Persönlichkeit an die Klinik. Dana M. Landau beleuchtet seine neben der unbestrittenen hohen fachlichen Kompetenz nicht ganz so liebenswürdigen Seiten: „Die eindrücklichen 235 persönlichen Publikationen Vogts lassen sich wohl auf seinen eisernen Willen zurückführen, der ihn stets beharrlich und ruhelos lässt, bis sein Ziel erreicht ist. Für Ferien hat er kein Verständnis. Dass er dasselbe auch von seinen Mitarbeitern verlangt, zusammen mit seiner trockenen, wortkargen Art, macht ihm nicht nur Freunde. Er ist ein strenger, von vielen gefürchteter Chef, und später werden noch unter Marc Amsler Geschichten erzählt, wie es in der Klinik unter Vogt zu und her ging. So öffnete ihm zum Beispiel der Oberarzt nach der Morgenvisite jeweils die Tür und begleitete ihn ehrfürchtig zum Lift. Dieser fährt nach oben, während der Oberarzt schnell die Treppe hinauf eilt, um noch vor dem Chef da zu sein und diesen aus dem Lift zu geleiten. Jeder in der Klinik hat sich seiner Autorität vollständig zu unterwerfen, und eine andere Meinung als die seine zu äussern ist unter dem strengen und reservierten Prof. Vogt riskant.“
Vogt lieferte sich eine in der helvetischen ophthalmohistorischen Literatur als Dauerfehde bezeichnete Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten Schweizer Augenärzte, dem langjährigen Direktor der Berner Augenklinik, Hans Goldmann – statt Fehde ist wohl Feindschaft ein passenderer Begriff. Dem äusseren Anschein nach ging es um Meinungsunterschiede zur Pathogenese des „Ultrarot-Stars“ der Glasbläser, den Goldmann für einen „Wärmestar“ hielt. Doch unter der Oberfläche kochten möglicherweise dunkle Emotionen Vogts, trieb ihn doch eine tiefsitzende Aversion gegen Goldmann als Menschen um. Aufgrund der Biographie Goldmanns ging nach Einschätzung von Gloor der Versuch Vogts, „Goldmann wissenschaftlich zu diskreditieren und dessen Berufung auf den Lehrstuhl nach Bern zu verhindern, ans Lebendige“. Ein Lehrstuhl in Deutschland hätte Goldmann nach Gloors Einschätzung den Tod gebracht: „Vogts Krieg gegen Goldmann ist eine der unschönsten Geschichten der Augenklinik Zürich.“ 1925 erhielt die Augenklinik eine zusätzliche Bettenstation in der Pestalozzistrasse. Auch dieses Gebäude dient noch heute der Universität und beherbergt die Kiefer- und Gesichtschirurgische Poliklinik. Eine positive Hinterlassenschaft aus dieser Zeit ist das dreibändige Werk Vogts „Lehrbuch und Atlas der Spaltlampenmikroskopie des lebendigen Auges“. Es enthält mehr als 2’000 Abbildungen und wird schnell zu einem Klassiker. Die Augenklinik Zürich war unzweifelhaft auch zu einer der wichtigsten Stätten ophthalmologischer Lehre und Forschung geworden.
Alfred Vogt stirbt kurz nach Aufgabe seines Amtes im Jahr 1943. Sein Nachfolger wurde der Netzhautspezialist Marc Amsler, der in Lausanne dem legendären Retinologen Jules Gonin gefolgt war. Amsler – an den noch heute das Amsler-Netz erinnert – erlebte mit dem Umzug 1952 in ein modernes Klinikgebäude an der Rämistrasse eine immense Vergrösserung aller Kapazitäten. Neben fünf bis sechs Assistenzärzten gehörte jetzt auch eine gleiche Zahl von Gastärzten aus aller Welt zu seinem Team – was belegt, welchen Ruf die Augenklinik in der internationalen Ophthalmologie inzwischen genoss. 1949 wurde die erste Orthoptistin eingestellt; eine Sehschule gehörte bald darauf zum Angebot der Klinik. Über der Tür zum Operationssaal liess Amsler sein persönliches ärztliches Credo anbringen: „Primum nil nocere“. Wenn Dana M. Landau schreibt, dass Amsler „in der Klinik durch seine verständnisvolle Art eine einzigartige Atmosphäre“ geschaffen hat, wird der Kontrast zum Vorgänger überdeutlich. Selbst die neue Klinik stiess bald an Kapazitätsgrenzen. Amslers Nachfolger Rudolf Witmer – Sohn eines Berner Augenarztehepaars – erlebte einen Engpass für Kataraktoperationen und setzte sich für die Schaffung von Augenabteilungen an Kliniken im Zürcher Umland ein, die dem USZ etwas von der operativen Belastung nehmen konnten. So entstanden die Augenkliniken am Kantonsspital Winterthur und am Stadtspital Triemli. An der Zürcher Augenklinik manifestiert sich derweil, dass das Zeitalter der Generalisten sich dem Ende entgegen neigte: In den 1970er Jahren wurde für Rudolf Klöti ein Extraordinariat für vitreoretinale Erkrankungen eingerichtet. Witmer brachte sich – wie einst Haab – in die Planungen für einen Neubau ein, den die Augenklinik zusammen mit der HNO-Klinik im Nordbereich des Klinikgeländes (Nord II genannt) beziehen sollte. Er selbst konnte am Umzug nicht mehr teilnehmen: Witmer ging, von Auseinandersetzungen mit Klinik- und Ministerialbürokratie zermürbt, 1985 in den vorzeitigen Ruhestand.
Es war der aus Basel berufene Balder Gloor, der in Nord II einzog, gleichzeitig aber gewahr wurde, dass die Zeiten des Wachstums wohl noch bei den Patientinnen und Patienten und ihren Leiden existierten, aber beim Budget vorbei waren. So stieg die Zahl der Operationen von knapp 1’800 im Jahr der Amtsübernahme des Glaukomexperten auf mehr als 2’600 gegen Ende der 1990er Jahre; die Poliklinik verzeichnete rund 36’000 Konsultationen per annum. Gleichzeitig gab es Personalstopp und Mittelkürzungen – die Postmoderne in der Patientenbetreuung hatte nun auch in Zürich Einzug gehalten. Die 26,5 Arztstellen, über die Gloor gebot, wären manch deutscher Universitäts-Augenklinik gleichwohl üppig erschienen. Gloor konstatierte weiteren Wandel: „Die Ausweitung des Leistungsspektrums verlangte nach einer Subspezialisation und Aufteilung in kleinere Funktionseinheiten, dabei ist eine Umwandlung von Weiterbildungsstellen in Staffstellen die logische Folge, womit gleichzeitig einer übermässigen Vermehrung der Augenärzte gegengesteuert werden kann. Allerdings erfordern leitende Stellen in Subspezialitäten integrationsfähige Persönlichkeiten, die bereit sind, nicht nur das eigene Gärtchen zu pflegen, sondern auch für das Ganze etwas zu tun.“
Man mag in diesen Worten einen Hinweis auf die etwas unruhige Phase sehen, welche die Zürcher Klinik nach Gloors Emeritierung 1999 erlebte. Die erstmalige Berufung eines Nicht-Schweizers, des renommierten Refraktivchirurgen Theo Seiler, bis zu diesem Zeitpunkt Chef der Universitätsaugenklinik Dresden, brachte gewisse Verwerfungen mit sich, die zum Exodus zahlreicher Mitarbeiter und zum Abschied Seilers bereits im Jahr nach seiner Berufung führten. Zunächst als Interimslösung gedacht, führt seit 2005 Klara Landau die Universitäts-Augenklinik Zürich als Ordinaria. Die Strabologin und Neuro-Ophthalmologin mit internationalem Hintergrund, unter anderem arbeitete sie in Kalifornien und in Israel, leitet eine florierende Klinik, an der etwa ein Drittel der niedergelassenen Ophthalmologen der Schweiz ihre Ausbildung absolviert haben. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung nach den wichtigsten Eigenschaften einer Vorgesetzten befragt, beschrieb sie diese mit den Worten: „Persönliche Integrität. Den Kontakt zur Basis zu behalten. Anliegen der Mitarbeitenden ernst nehmen. Der Sinn für Humor.“ Wie an anderen Kliniken, so erlebt auch die Augenklinik eine Verlagerung vom stationären in den ambulanten Sektor, was bauliche Anpassung in Zeiten begrenzter Mittel erfordert. Gloor dazu: „Der Neubau Nordtrakt brachte eine deutliche Verbesserung, wobei aber im heutigen Gerangel um Platz sich die Neider der Augenklinik möglichst viel entreissen möchten.“ Was hätte Gottfried Keller, wenn nicht der Gründervater, so doch der Gründernotar der Zürcher Augenklinik zu solchem Ansinnen gesagt? Und zu der von Kassenfunktionären und Gesundheitsressourcenverteilern auch in der Schweiz bewirkten „Verdüsterung der Szene“? Vielleicht jene Worte, die er kurz nach seiner Ernennung zum Staatsschreiber in Zürich bei einer missglückten Séance den Teilnehmern entgegendonnerte: „Jetzt ist’s mir zu dick, ihr Lumpenpack, ihr Gauner !“
Danksagung: Für die freundliche Unterstützung dankt der Autor Frau Prof. Dr. Klara Landau und Herrn Prof. Dr. Balder Gloor sehr herzlich!
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