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Der individuelle Weg zu weniger Gewicht

Starkes Übergewicht hat schwere gesundheitliche Folgen und kann die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Am Adipositas Zentrum Zürich klärt ein interdisziplinäres Team die vielfältigen Symptome und Ursachen der komplexen Erkrankung ab.

Text: Helga Kessler

„Hätte man mich doch bloss früher operiert.“ Solche Kommentare hört der Viszeralchirurg Marco Bueter immer wieder. Für stark übergewichtige Menschen ist ein chirurgischer Eingriff oft die letzte Chance für einen deutlichen Gewichtsverlust. Häufig legen die Betroffenen zuvor einen mühsamen und jahrelangen Weg zurück: Eine Operation kommt in der Regel erst dann infrage, wenn alle ärztlichen und persönlichen Anstrengungen erfolglos bleiben und es nicht gelingt, das Gewicht zu reduzieren oder nach erfolgreicher Diät stabil zu halten. Im Adipositas Zentrum Zürich klärt ein interdisziplinäres Team aus Endokrinologie, Viszeralchirurgie, Ernährungsberatung und Psychiatrie die Ursachen des massiven Übergewichts und mögliche Behandlungsoptionen. Wo indiziert, wird Betroffenen auch schon früher in der Behandlung eine Operation vorgeschlagen.

Zu viel Essen, zu wenig Bewegung

„Adipositas ist eine komplexe Erkrankung“, betont der Endokrinologe Philipp Gerber. Eigentlich ist der Zusammenhang ganz einfach: Übergewicht entsteht, wenn der Körper mehr Energie aufnimmt, als er verbraucht, und die überschüssigen Reserven in Fettdepots speichert. Tatsächlich ist es etwas komplizierter: Beteiligt am Geschehen sind unter anderem Gene, die den Energieverbrauch des Körpers und die Art, wie der Körper sowohl Hunger als auch Sättigung reguliert, steuern. Die Ausprägung des Übergewichts wird entscheidend mitbeeinflusst durch den Lebensstil mit mangelnder Bewegung und einem falschen Ess- und Trinkverhalten. In jungen Jahren kann das elterliche Umfeld einen ungünstigen Einfluss haben. Später können sich beruflicher Stress, aber auch die Stigmatisierung, mit denen stark Übergewichtige konfrontiert sind, negativ auswirken und den Drang zu essen noch verstärken. In seltenen Fällen wird Adipositas durch spezifische Gene, eine Stoffwechselerkrankung oder durch bestimmte Medikamente verursacht.

Hohes Risiko für Folgeerkrankungen

In der Schweiz gelten 43 Prozent der Bevölkerung als übergewichtig, 12 Prozent sind stark übergewichtig oder adipös. Mit den Pfunden wachsen die Risiken für Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Arteriosklerose, Fettleber, Schlafapnoe, Gelenkentzündungen, Asthma und verschiedene Krebserkrankungen. Mit der passenden Behandlung kann es gelingen, die Risiken zu reduzieren: „Schon wenige Kilo Gewichtsverlust können viel bewirken“, sagt Endokrinologe Philipp Gerber. Der Blutzucker kann so stark sinken, dass kein Insulin mehr benötigt wird, auch der Blutdruck kann sich normalisieren. Solche Erfolge stellen sich meist durch eine Kombination medikamentöser und psychologischer Therapien sowie Ernährungs- und Bewegungstherapien ein.

Effiziente Spritzen und Kapseln

Die Auswahl an Medikamenten, die zur Behandlung von Adipositas eingesetzt werden können, ist nicht gross. Das könnte sich aber bald ändern. „Viele Medikamente werden derzeit in Studien getestet“, so Philipp Gerber. Verfügbar sind derzeit drei verschiedene rezeptpflichtige Arzneimittel, zwei davon können über einen Pen selbstständig gespritzt werden. Die ursprünglich zur Therapie von Diabetes Typ 2 entwickelten Präparate wirken vor allem über das Gehirn und den Magen-Darm- Trakt. Sie führen zu einem Sättigungsgefühl. Zudem verlangsamen sie die Entleerung des Magens nach den Mahlzeiten und verringern so den Hunger. Schon seit Langem erhältlich ist das Mittel Orlistat, das als Kapsel eingenommen wird. Der Wirkstoff setzt nicht beim Appetit an, sondern hemmt die Aufnahme von Fett im Darm. Der Nachteil von Spritzen und Kapseln ist – wie auch bei Sportprogrammen oder Diätplänen – dass ihre Wirkung verschwindet, sobald sie abgesetzt werden.

Auf die Person abgestimmte Ernährungsempfehlungen

Auf ihre langfristige Wirkung ausgelegt sind die im Rahmen der Adipositassprechstunde vermittelten Empfehlungen zu mehr Bewegung und einer angepassten Ernährung. Die Ernährungsempfehlungen orientieren sich an den medizinischen Vorgaben, die je nach Folgeerkrankung sehr unterschiedlich sind und sich am Individuum orientieren. „Wir arbeiten nicht mit fixen Plänen, sondern berücksichtigen auch die Lebenssituation, Gewohnheiten und Wünsche der Betroffenen“, sagt Ernährungsberaterin Noela Vontobel. So entsteht ein Ernährungsplan der in Zusammensetzung, Menge und Essrhythmus immer wieder angepasst wird und sich möglichst gut in den individuellen Alltag integrieren lässt. Ziel ist, das Ernährungsverhalten dauerhaft, am besten lebenslang, zu verändern. Adipositas ist eine chronische Erkrankung.

Bypass um den Magen

„Wenn man mit konservativen Therapien nicht weiterkommt, kann eine Operation sinnvoll sein“, sagt Philipp Gerber. Pro Jahr werden im Adipositas Zentrum Zürich rund 250 bariatrische Eingriffe vorgenommen. Die häufigste Methode am USZ und in der Schweiz ist der Magenbypass. Der Magen wird dabei stark verkleinert, wodurch er weniger Nahrung aufnehmen kann. Der Restmagen verbleibt im Körper. Zudem wird der Dünndarm so umgeleitet, dass die Verdauungsstrecke kürzer ist: Ein Teil der Kalorien aus Fetten und Zucker wird so vom Körper nicht aufgenommen. Beim Schlauchmagen, der weltweit am häufigsten angewandten Operationstechnik, wird ein Teil des Magens vollständig entfernt, sodass ein schmaler Schlauch übrig bleibt. Die Magen-Darm-Passage wird nicht verändert. „Die Technik ist einfacher, führt aber häufiger zu Nebenwirkungen wie einem starken Reflux“, sagt Marco Bueter. Beide Methoden führen zu einem starken Gewichtsverlust.

Essen aus Erschöpfung?

Vor einer bariatrischen Operation ist ein Gespräch mit einem Psychotherapeuten zwingend. „Wir versuchen, mit den Patientinnen und Patienten herauszufinden, wo die Gründe für den allfälligen ungebremsten Essensdrang liegen“, sagt Patrick Pasi. Der Auslöser könne Langeweile sein, häufig aber liegen Ängste zugrunde oder Leistungsdruck. „Viele stark übergewichtige Menschen sind entgegen dem gängigen Vorurteil, dass sie faul und träge seien, sehr pflichtbewusst und haben Mühe, sich abzugrenzen“, hat Psychiater Patrick Pasi beobachtet. Die ständige Erschöpfung werde dann nicht selten mit fast zwanghaftem Essen kompensiert. Erkennt der Therapeut solche Zusammenhänge, kann er zusammen mit den Betroffenen Strategien entwickeln, die längerfristig zu einem anderen Verhalten führen. In zwei von drei Fällen gelingt dies, häufig auch nach einer bariatrischen Operation, so Patrick Pasi. „Die meisten Patientinnen und Patienten sind dann sehr zufrieden, weil sie endlich wieder anders aussehen. Sie merken aber auch, dass sie womöglich früher automatisch unangenehme Gefühle mit Essen kompensiert haben, und müssen jetzt neue Bewältigungsstrategien finden.“

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