Story

Angriff auf den eigenen Körper

Wenn das Immunsystem aus dem Gleichgewicht gerät, kann es seine Waffen gegen sich selbst richten. Autoimmunerkrankungen können schwere Verläufe nehmen und müssen meist lebenslang behandelt werden. Die Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt.

Text: Helga Kessler

 

Freund oder Feind? Das menschliche Immunsystem klärt laufend ab, ob Material, das es entdeckt, zum Körper gehört oder nicht. Findet es Erreger wie Bakterien oder Viren oder krankhaft veränderte Krebszellen, fährt es sein Waffenarsenal auf. Fresszellen, Antikörper und Killerzellen sorgen dafür, dass als «fremd» Identifiziertes entfernt wird und der Mensch gesund bleibt. Doch so effizient das Immunsystem beim Abwehren von Erregern oder anderem Fremdmaterial ist, so gravierend sind die Folgen, wenn es Fehler macht und sich gegen den eigenen Körper richtet. Bei einer Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem körpereigene Strukturen, Zellen oder Gewebe an, indem es Autoantikörper bildet und Immunzellen aktiviert. Diese greifen dann Organe, Haut, Knochen oder Nervenzellen an und schädigen das gesunde Gewebe, die betroffenen Areale entzünden sich. Ist das Immunsystem einmal auf Abwehr von eigenem Material gestellt, lässt es sich kaum noch stoppen. Entzündungen werden chronisch und richten zunehmend Schaden an. Das kann fortschreitende und degenerative Erkrankungen zur Folge haben, die bei einem schweren Verlauf zum Tod führen können.

Zerstörte Organe

Welche Symptome resultieren und wie sich die Erkrankung entwickelt, hängt davon ab, welcher Teil des Körpers betroffen ist. Das Immunsystem kann sich spezifisch gegen ein bestimmtes Organ richten und dieses durch die chronischen Entzündungen nach und nach schädigen oder zerstören. Bei der Hashimoto-Thyreoiditis produziert die Schilddrüse irgendwann kein Thyroxin mehr; beim Typ-1-Diabetes versagen die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse ihren Dienst; bei der Multiplen Sklerose werden Teile der Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark so geschädigt, dass die Nervenleitung irreparabel gestört ist; bei der Colitis ulcerosa entzündet sich die Schleimhaut im Dickdarm schubweise, was starke Schmerzen und Blutungen hervorrufen kann. Von einer «organspezifischen Autoimmunerkrankung» kann fast jedes Organ im Körper betroffen sein.

100 verschiedene Erkrankungen

Sind mehrere Organe und Gewebe im Körper Ziel der Attacken, spricht man von «systemischen Autoimmunerkrankungen». Sie sind besonders komplex und können bei den betroffenen Personen sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Bei der rheumatoiden Arthritis entzünden sich vor allem die Gelenke, bei den Vaskulitiden die Gefässe, bei der Polymyositis die Muskulatur. Als typische systemische Erkrankung gilt der Lupus erythematodes, bei dem sich neben den Gelenken meist auch die Haut und häufig zudem die Nieren entzünden.

Vorkommen in der Bevölkerung

Bekannt sind rund 100 verschiedene Autoimmunerkrankungen, weltweit erkranken geschätzte fünf bis acht Prozent der Bevölkerung, Frauen viermal häufiger als Männer. Je nach Krankheit können unterschiedliche Ethnien stärker betroffen sein. Manche Erkrankungen beginnen bereits im Kindes- und Jugendalter, so Typ-1-Diabetes, andere im jungen Erwachsenenalter wie etwa die Multiple Sklerose oder Lupus erythematodes. Bei anderen, etwa der rheumatoiden Arthritis, steigt das Risiko mit zunehmendem Alter.

Seltene Spontanheilungen

Autoimmunerkrankungen sind in der Regel nicht heilbar. Selten verschwindet die Krankheit von alleine wieder, so bei der Sarkoidose, einer systemischen Erkrankung, die vor allem in Lunge und Lymphdrüsen auftritt. Hier kommt es bei sieben von zehn Betroffenen in einem frühen Erkrankungsstadium zu Spontanheilungen, selbst chronische Formen können heilen. Sind dagegen viele Organe betroffen und diese zudem schwer entzündet, steigt das Risiko, an der Sarkoidose zu sterben.

Mögliche Behandlungen

Die meisten Autoimmunerkrankungen werden behandelt, indem man die Entzündungen hemmt oder das Immunsystem unterdrückt. Die Behandlung übernehmen, je nach Erkrankungstyp, entweder Organspezialisten oder ein Team von Spezialist:innen aus verschiedenen Kliniken. Am USZ sind sowohl an der Diagnose wie an der Behandlung meist mehrere Fachkliniken beteiligt. Auf Einladung der Klinik für Immunologie treffen sich die Spezialisten einmal pro Woche zum interdisziplinären Board, um komplexe Fälle zu besprechen. Wird eine Erkrankung rechtzeitig diagnostiziert, können die Beschwerden meist gelindert und Folgeschäden verhindert oder zumindest verzögert werden.

Risikofaktor Östrogen

Weshalb das Immunsystem bei den Betroffenen auf Selbstangriff schaltet, ist nicht vollständig geklärt. In der Regel müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, damit die Erkrankung ausbricht. Das Geschlecht und damit die andere Ausstattung an Hormonen spielt eine wichtige Rolle. Etliche Autoimmunerkrankungen scheinen durch Östrogene befördert zu werden. Testosteron andererseits, das vorherrschende Geschlechtshormon bei Männern, scheint das Immunsystem zu dämpfen. So tritt die Multiple Sklerose, die Frauen dreimal häufiger betrifft als Männer, in der Regel erst im gebärfähigen Alter auf. Während einer Schwangerschaft gehen die MS-Beschwerden meist zurück, weil dann der höhere Progesteronspiegel die Immunreaktion dämpft. Nach der Entbindung, wenn sich die Hormonlage wieder dramatisch verändert, kehren die Symptome meist verstärkt wieder. Auch beim Lupus erythematodes scheinen die weiblichen Hormone eine Rolle zu spielen – neun von zehn Betroffenen sind Frauen. Auch hier beginnt die Erkrankung meist im Reproduktionsalter. Männer tragen ein erhöhtes Risiko, wenn ihr Testosteronspiegel niedrig ist.

Erbliche Anfälligkeit und Schadstoffe

Die Sexualhormone können jedoch nur teilweise erklären, weshalb Autoimmunerkrankungen entstehen – manche brechen ja aus, ehe sich die Hormonspiegel geschlechtstypisch verändern. Andere, wie die Colitis ulcerosa, treffen Männer und Frauen gleich häufig. Eindeutig eine Rolle spielen erbliche Faktoren. So gibt es in Familien Häufungen von Erkrankungen mit Colitis, Lupus oder MS. Vererbt wird aber nicht die Autoimmunerkrankung selbst, sondern eine erhöhte Anfälligkeit. Diese könnte auch dazu beitragen, dass Autoimmunerkrankungen bei Betroffenen gehäuft auftreten: Liegt eine MS vor, kommt nicht selten eine Colitis oder die Schilddrüsenerkrankung Hashimoto dazu. Doch selbst eineiige Zwillinge entwickeln nicht zwangsläufig dieselbe Autoimmunerkrankung. Also müssen weitere Faktoren eine Rolle spielen. Von manchen Umweltschadstoffen weiss man, dass sie das Immunsystem zur Bildung von Autoantikörpern animieren können. Bei der Sarkoidose gelten von der Lunge aufgenommene Chemikalien oder Feinstaub als mögliche Verursacher, beim Lupus UV-Licht. Medikamente, Infektionen mit Bakterien oder Viren, aber auch chronischer Stress und eine bestehende Tumorerkrankung können ebenfalls zur Folge haben, dass das immunologische Gleichgewicht aus dem Takt gerät. Diskutiert wird auch, ob die Zusammensetzung der Darmflora einen Unterschied macht.