Wer an anorektalen Dysfunktionen wie Stuhlinkontinenz leidet, spricht kaum darüber. Doch Betroffene können mithilfe der Physiotherapie lernen, ihre Probleme mit dem Stuhlgang in den Griff zu bekommen.
„Mit Körperteilen, die normalerweise problemlos funktionieren, befasst man sich nicht. Erst durch die Geburten von meinen beiden Söhnen wurde mir so richtig bewusst, dass ich meinen Beckenboden bislang nie richtig wahrgenommen hatte“, erklärt die Physiotherapeutin Käthi Zavagni-Roelly. Umso faszinierender fand sie das Fachgebiet und begann, ihr Wissen darin zu vertiefen. Schon bald 20 Jahre arbeitet sie als Physiotherapeutin mit Spezialisierung auf Beckenbodenphysiotherapie am Universitätsspital Zürich (USZ).
Viele Betroffene
Viele Menschen leiden an anorektalen Dysfunktionen, reden aber nicht darüber“, sagt Zavagni-Roelly. Die möglicherweise bekannteste Form der anorektalen Dysfunktion ist die Stuhlinkontinenz. Schätzungsweise sind sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung davon betroffen. Unterschieden wird zwischen der passiven Stuhlinkontinenz, bei der die Patient:innen unbemerkt Stuhl verlieren, und der aktiven Stuhlinkontinenz. Bei letzterer schaffen es die Betroffenen oft nicht, die Toilette rechtzeitig zu erreichen. Zu einer Stuhlinkontinenz kommt es durch eine Verletzung oder Lähmung des Schließmuskels, beispielsweise nach einer Operation, durch eine Geburtsverletzung oder bei einer tieflumbalen Diskushernie. Auch viele Menschen mit Störungen des zentralen Nervensystems sind davon betroffen. Weitere anorektale Dysfunktionen sind die Windinkontinenz, bei der die Luft nicht zurückgehalten werden kann, sowie die anorektale Dyssynergie. Bei dieser Erkrankung arbeiten der Enddarm und der Schließmuskel beim Stuhlgang nicht koordiniert zusammen. Entweder kann im Enddarm nicht genug Druck aufgebaut werden, und/oder der Schließmuskel kann nicht loslassen. „Die anorektale Dyssynergie kommt bei unseren Patient:innen fünf Mal häufiger vor als die Stuhlinkontinenz“, meint Zavagni-Roelly.
Informieren und aufklären
Die Patient:innen kommen mit einer ärztlichen Verordnung und Diagnose zu Zavagni-Roelly und ihren Kolleg:innen des Beckenboden-Teams am USZ. Um sich selbst ein Bild zu machen, führen die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten immer zuerst eine ausführliche Anamnese durch. Die erste Aufgabe der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten besteht darin, den Betroffenen möglichst viele Informationen zur Lage und Funktion der Organe sowie zum Defäkationsverhalten zu geben. Dieses Hintergrundwissen ist erforderlich, damit die Patientinnen und Patienten ungünstige Verhaltensweisen verstehen und entsprechend anpassen können. Ist der Stuhlgang sehr hart oder sehr flüssig, müssen die Betroffenen das Ess-, Trink- und Bewegungsverhalten entsprechend adaptieren. Dazu arbeiten die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten mit Ernährungsberater:innen und Ernährungsberatern zusammen.
Ertasten nur mit Einverständnis
Als Nächstes kümmern sich die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten um die Normalisierung der Schliessmuskel funktion. „Es geht nicht nur um Spannung, Ausdauer und Kraft, sondern auch um das Timing“, erklärt die Spezialistin. Dazu müssen die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten die Beckenbodenmuskulatur untersuchen. Das machen sie durch Tasten einerseits von aussen, andererseits im Analkanal und bei der Frau zusätzlich in der Scheide. „Wir bringen den Betroffenen bei, wann und wie sie schieben und wo sie anspannen oder loslassen müssen, damit das Richtige passiert.“ Jeder Untersuch im Intimbereich geschieht nur nach explizitem Einverständnis der Patientinnen und Patienten. Bei verspannter Muskulatur führen die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten Weichteilbehandlungen. Zum Beispiel führen sie Triggerpunktbehandlungen durch. Bei zu viel oder zu wenig Toleranz des Enddarms hilft eine Behandlung mit einem kleinen Ballon. Der Ballon simuliert die Füllung des Enddarms, und die Patientinnen und Patienten können den Umgang damit üben (Foto). Am Ende der Therapie befragen die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten die Patientinnen und Patienten mit der Skala „Patients’ Global Impression of Change“ (PGIC, Gesamteindruck der Patientinnen und Patienten bezüglich der Veränderung). Den meisten Patientinnen und Patienten geht es dank der Physiotherapie besser bis viel besser, nur selten bleibt der Zustand gleich wie vor der Behandlung.
Ohne Verhaltensänderung keine Verbesserung
Die Verbesserung von anorektalen Dysfunktionen hängt auch von der Bereitschaft der Patientinnen und Patienten ab: „Wenn jemand ein falsches Bild davon hat, wie der Stuhlgang zu funktionieren hat, ist eine Veränderung schwierig. Manche Patientinnen und Patienten hätten gerne eine Verbesserung, ohne dass sie etwas ändern müssen“, sagt die Physiotherapeutin. Diese Situationen sind für sie am schwierigsten, vor allem, weil sich die Betroffenen damit auch selbst unter Druck setzen. Immer wieder hat Zavagni-Roelly aber auch Patientinnen und Patienten, die total offen sind: „Es kommt vor, dass jemand nur einen Input braucht und diesen so gut umsetzt, dass ich die Physiotherapiebehandlung bereits nach der zweiten Sitzung abschließen kann“, sagt die Expertin erfreut. Die Arbeit macht ihr Spass, weil sie Betroffene befähigen kann, ihr Problem selbst in den Griff zu bekommen. „Viele Kolleginnen und Kollegen finden es spannend, was ich mache und sind neugierig. Selbst in diesem Bereich zu arbeiten, können sich aber nicht alle vorstellen.“
Nur wenige Weiterbildungsmöglichkeiten
Wer dies dennoch möchte, kommt um eine Weiterbildung in Beckenbodenphysiotherapie nicht herum. Schweizer Fachhochschulen bieten keine Masterstudiengänge an. Zavagni-Roelly absolvierte deshalb den „MSc in Pelvic Physiotherapy“ an der „SOMT University of Physiotherapy“ (Amersfoort, Niederlande), die einen Standort in Interlaken hat. „Vor allem aber muss man auch offen sein für die zu behandelnden Themen. Wir sprechen mit den Patient:innen über ihr Intimleben. Daher müssen wir Sicherheit vermitteln – auch in der Kommunikation. Sonst werden sich die Patient:innen nicht öffnen können.“
Enttabuisieren: proaktiv werden
Zavagni-Roelly würde es begrüßen, wenn Gesundheitsfachpersonen proaktiv auf mögliche Betroffene zugehen und ihnen die Möglichkeit bieten würden, über anorektale Dysfunktionen zu sprechen. „Schneiden Betroffene das Thema an und steigt man dann nicht darauf ein, so hat man die Chance verpasst“, erklärt die Expertin. Bei gewissen Diagnosen wie systemischer Sklerose, Multipler Sklerose oder Parkinson macht es Sinn, die Patient:innen direkt nach Problemen mit dem Stuhlgang zu fragen. „Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Probleme selbst behandeln kann oder nicht. Auch mit einer Weiterweisung hilft man den Betroffenen“, ist die Physiotherapeutin überzeugt. Nur so gelingt es, anorektale Dysfunktionen zu enttabuisieren und die Betroffenen der richtigen Versorgung zuzuweisen.